Dienstag, 17. Januar 2012

Heute vor einem Jahr

Heute vor einem Jahr beginnt das Drama mit unserem usbekischen Visum.

Bisher unveröffentlichte Notizen:

Wir sprechen immer wieder mit jungen Menschen, die im Grunde weg wollen, aber eher wegen der Familie da bleiben. Immer die Frage nach dem Ausland und die Frage danach wie wir den Iran wahrnehmen. Oft wirkliches Interesse


Gundas Artikel wird - nach einem Jahr - in Deutschland veröffentlicht:

Die Abwesenheit des allzeit Anwesenden – Erfahrungen
mit der
Internetzensur und theologische Impulse daraus
Ich klicke auf Twitter, es erscheint eine Seite mit vielen
bunten Zahlen und
nicht lesbaren Zeichen. Ich versuche einen Artikel im
Spiegel zu lesen,
dasselbe. Beim Wetterbericht ist die Seite ein „Ups, the
page is broken“ und
Informationen zur politischen Lage im Land bekomme ich nur
noch in kleinen
Provinzzeitungen aus Österreich. Nicht zu denken an
Facebook und auch die
Seite der chinesischen Eisenbahn scheint verdächtig. Die
Blogseiten sind
ebenso gesperrt wie Youtube. Der Klick im Netz ist so
selbstverständlich und
so normal und würde gezählt werden wie oft im Alltag das
Internet aufgerufen
wird, wären das enorme Zahlen. Seit drei Monaten ist das
Internet eine Quelle
der Überraschungen. Die Seite unserer Fotos ist gesperrt,
der direkte Zugang
zum Blog auch – manchmal. Manchmal geht es gut, manchmal
geht das
Internet gar nicht.
Ich bin seit drei Monaten im Iran, einem Land, das in der
Internetzensur mit
China und Turkmenistan auf dem Podest steht. Die
Emotionen, die ein
dauernder Filter hervorruft, sind vielfältig. Zunächst
kann ich es nicht glauben.
Das bleibt als Reaktion auch erhalten. Dann suche ich
Umwege, zunächst
legale: wer könnte aus Deutschland Bilder ins Netz
stellen? Dann bekomme
ich eine der vielen Proxy-Adressen. Das erste Nutzen ist
noch mit Sorge und
Angst verbunden. Irgendwann wird es zur Gewohnheit. Es
kommt die
Filterseite, ok dann eben mit Proxy. Aber auch der Proxy-
Zugang ist nicht der
Himmel, twitter geht immer noch nicht und auch die Bilder
können nicht
bearbeiten werden. Ich bleibe also zwischen Himmel und
Erde?
Was ist das Internet? In die Veränderungen der letzten
Jahre, eher noch als
Jahrzehnte, dient das Internet in seinen Entwicklungen als
ein doppelter Ort
für die Benutzenden: es ist ein Ort der eigenen
Entwicklung, die Hand in Hand
mit der Entwicklung des Netzes selbst geht und der eigenen
Verortung in der
sich ausbreitenden Landschaft des Internets. Welches Thema
auch immer
aktuell ist, sei es die Entwicklungshilfe oder Politik,
Religion oder Wirtschaft,
es muss immer mit den virtuellen Welten im Netz rechnen.
Manche
Entwicklung wird beinahe überholt von der Entwicklung der
Entwicklung im
Netz. In Ägypten ist mitten im Aufruhr das Internet
runtergefahren worden, im
Iran sind die Sozialen Netzwerke gesperrt. Die Macht und
die Manipulation
dieser Netze sind gerade für diktatorische oder
umstrittene Regierungen
ebenso wie religiöse Gemeinschaften extrem gefährdend und
zugleich auch
entlastend. Um die Manipulation durch Geheimdienste
wissend kann alles
eben auch als von außen gesteuert betrachtet werden. Der
Iran ist für diesen
Mechanismus das beste Beispiel. Bleibt die Frage nach der
Wahrheit. Ist am
Ende das Internet mit seinen rasanten Kommunikationen
nicht doch
unberechenbarer weil das Zeugnis der Menschen vor Ort
zählt und nicht die
Theorie? Ist es möglich, in den Aussagen zu unterscheiden
zwischen
tatsächlicher Angst und Freude und der manipulierenden
Aussage? Das
Internet ist vielleicht letztlich ein Ort der Wahrheit in
dem die Frage danach,
wem kann ich trauen, radikal gestellt werden muss und wo
es bisher keine
Maßstäbe dafür gibt.
Was bedeutet das für das Ich, das Subjekt, die Identität,
die wir sind? Gerade
im Blick auf die Identität erscheint das Netz als ein Ort
des Darstellens, des
Vernetzens, aber auch des Lernen und Agierens. Zugleich
ist es ein
spielerischer Ort, eine Ort der verschiedenen Realitäten
und darin ein
verführerischer, auch ein gefährlicher-gefährdender Ort.
Wird die
Aufmerksamkeit auf das Individuum gelegt, verlaufen die
meisten Reflexionen
ebenfalls individualisiert. Dies trifft sowohl auf die
Frage zu, was es für einen
Menschen bedeutet, im Netz aktiv zu sein, als auch auf die
Frage, wie es
dazu kommt, dass ein Mensch aktiv – zu aktiv im Netz ist.
Die
gesellschaftliche Dimension sieht die Gefährdung, hier
auch der eigenen
Person und des direkten Umfeld. In der Betrachtung des
Individuum sind
folgende Themen präsent: die Spiele, die Communities, die
Foren und
Chatrooms, Twitter und Skype und die darin liegenden
Fragen der
Persönlichkeitsrechte, der Beeinflussung, der Gefährdung
und Entwicklung
des Menschen zur reifen, erwachsenen Persönlichkeit. Wird
bei dieser
Betrachtung, die, je länger ich in Asien unterwegs bin,
sich als in der
Hermeneutik westlicher Philosophie bewegend herausstellt,
einer Philosophie,
die den einzelnen vor der Gruppe reflektiert, nicht das
Phänomen der
Gemeinschaft, des Wir, der Zugehörigkeit ausgeklammert?
Als Individuum
mag das Netz für einzelne gefährdend sein und auch
lebensbedrohlich für
andere, in Gesellschaften, die als Wir leben, ist das
Internet eine regelrechte
Zeitbombe, die, wenn sie explodiert, enorme Folgen für die
Mächtigen hat.
Über die Ereignisse in Ägypten und die Reaktionen im Iran
ist mir ein
Gedanke durch den Kopf gegangen. In den iranischen
Zeitungen werden die
Proteste als Zusammensturz der arabischen Welt betrachtet
und zeitgleich
werden die Bilder der Islamischen Revolution im
Staatsfernsehen gezeigt. Als
lesend verstehende, fernsehende nicht verstehende und
daher nur sehende
verstehe ich die Botschaft: die arabische Welt bricht
zusammen (das ist gut)
und im Iran wird nicht passieren, denn der Sturz des
Regimes hat ja schon
stattgefunden. Ägypten und die anderen Länder führen die
Islamische
Revolution nun endlich fort. Angesichts der Internetzensur
im Iran und des
Hinunterfahrens des Internets in Ägypten habe ich mich
gefragt, ob es
dieselbe Angst ist, die in den 80zigern in Lateinamerika
herrschende Politiker
veranlasst hat, das Magnifikat zu verbieten. Vielleicht
ist die Kommunikation
über die Netzwerke, dass die Herrschenden gestürzt werden
sollen, genau so
etwas wie das öffentliche Beten des Magnifikat. Jedes
Instrument zum
Stürzen der Mächtigen muss verhindert werden, konkret ist
es hier das
Internet. Ich erlebe mich hier nicht mehr als das aktive
Ich, das in
verschiedenen Identitäten sich darstellt und mit
Identitäten kommuniziert. Ich
erlebe mich hier als Teil einer großen Gruppe, die – um
überhaupt
kommunizieren zu können – die herrschenden Strukturen
umgehen muss. Bei
dem Aufwand und der Gefährdung kommuniziere ich bestimmt
nicht mehr,
dass ich gerade einkaufen gehe. Da geht es dann um andere
Themen.
Die Abwesenheit des Allzeit Anwesenden hat mein Verhältnis
zum Internet
radikal verändert. Es ist keine Selbstverständlichkeit
mehr, es ist beobachtet,
reglementiert und gefährdend. Es wird nachgeforscht und
die Tracks
aufgezeichnet, es kann von jetzt auf gleich ausgeschaltet
werden. Es sind für
normal gehaltene Kommunikationswege gesperrt. Es sind
Bilder
weggeschlossen. Es bleibt übrig, was übrig sein darf und
der Rest geht nur
über Umwegen. Was wäre, wenn der Umgang mit dem Internet
theologisch
reflektiert würde? Wenn er in seiner Sprengkraft
verstanden würde? Wenn die
soziale Frage und die Frage nach den Menschenrechten dort
verortet würde,
so dass die Mächtigen zittern müssen und zugleich wissen,
sie können
Wissen nicht verbieten ebenso wenig wie Gedanken? Meine
Lehre aus fast
vier Monaten Asien und drei Monaten Iran: dieser Artikel
darf frühestens im
März veröffentlich werden (da bin ich nicht mehr im Iran
und daher nicht
gefährdet) und die individualistische Perspektive auf das
Internet des Westens
ist eine Sackgasse. Es ist eine Sackgasse in doppelter
Hinsicht: es verstellt
den Blick auf die politische Dimension und es verstellt
den Blick auf
Internetzensur praktizierende Länder, die darauf reduziert
zu werden. Auf der
Meta-Ebene reflektiert dieser Zugang weder die subtile
Zensur des Westens
noch die Kultur Asien die aus mehr besteht als aus
menschenrechtlich
bedenklichen Momenten. Theologisch könnte es einen Weg
daraus geben,
wenn die Einbindung eines jeglichen persönlichen
Engagements im Internet
zugleich als Teil eines Wirs verstanden würde, eines Wirs,
das – gleich dem
öffentlichen Beten des Magnifikats – die Herrschenden
stürzen kann weil es
das Ich aus seiner „Internetecke“ auf die Straße holt.
Theologisch sehe ich die
Verantwortung derer, die den Luxus eines freien und
ungefährdeten
Internetzugangs haben, darin,
-Kriterien zu entwickeln, vielleicht auch Schlüsselwörter
und Bilder, mit denen
die echten Aussagen von den manipulativen unterschieden
werden können.
-Eine Ethik zu denken, mit der wenigstens einige sich des
individualistischen
Dauer-Selbstausdrucks enthalten und solidarisch die
unterstützen, die um ihr
Leben kämpfen
-Eine Pädagogik zu entwickeln, die Einspruch gegen jede
menschenrechtsverachtende Äußerung im Netz erhebt
-Eine Theologie des Widerstands zu entwickeln, die
Gerechtigkeit sucht auf
neuen den Wegen des Internet.
2011, Gunda