150.000 km Radreiseerfahrung lassen in manchen Dingen keine Kompromisse mehr eingehen. Frankreichtour - Grenoble, 2009: Ein LKW kracht vor uns mit seinen Aufbauten gegen eine Eisenbahnbrücke. Riesenkrach, Brücke scheint unbeschädigt, der Fahrer klettert aus dem Führerhaus. Bei mir löst die Situation eine gewisse Befriedigung aus: dieser Fahrer ist diesen Job jetzt bestimmt los! Unser Leben hängt hunderte Male am Tag davon ab, ob LKW-, Caravan- und PKW-FahrerInnen ihr Fahrzeug auf den Zentimeter genau einschätzen können, und da ist ein solcher Unfall eine willkommene Selektion.
Mit großem Respekt habe ich am Mittwoch dann den Rücktritt von Bischöfin Käßmann vernommen. Rücktritt, weil man/frau zufällig mit Alkohol im Blut am Steuer erwischt wird? Das gehört ja nicht gerade zur Kultur unserer AutofahrerInnenrepublik! Doch mit diesem ehrlichen Schritt verhindert Käßmann, mit den Wiesheus und Haiders in einem Atemzug genannt zu werden.
In meinem Radfahrerleben gab es bestimmt 15.000 (!) Situationen, wo ich im Recht gewesen wäre, aber für die Fehler anderer mitdenken und -handeln mußte. Doch wenn 1,5 , 1,7 oder 1,8 Promille das Gegenüber im Phaeton zur SelbstmordattentäterIn werden lassen, hilft auch diese vorausschauende Fahrweise nichts mehr.
Deshalb rettet Käßmann mit ihrem Schritt vielleicht unser Leben. Sie weiß um Vorbildfunktionen. Sie hat bei der Trauerfeier für Robert Enke am 11. November 2009 gepredigt. Aber auch sie konnte nicht verhindern, dass in den kommenden Wochen bei der Eisenbahn die stundenlangen Verspätungen wegen "Notarzteinsatz am Gleis" sich vervierfachten. Enke war Vorbild, auch im Suizid, aber niemand thematisierte die Aggression und Gewalt, die er durch die Art und Weise seiner Selbsttötung anderen damit antat.
Käßmann brauchte für ihren Rücktritt drei Tage. Einen sicherlich, um Schock und Kopfweh zu überwinden. Einen anderen, sich zu beraten. Und noch einen, um sich selber klar zu werden, vielleicht auch im Gebet. Drei Tage habe ich dann noch andern gegeben, auch in kirchlichen Leitungsämtern, von denen ich weiß, daß sie besoffen autofahren (und die sind nicht alle protestantisch!). Aber niemand trat mehr zurück.
Der Schritt Käßmanns wird unsere Leben retten, wenigstens dazu beitragen. Umso mehr, je mehr auch andere dazu beitragen, diese ehrliche und ernsthafte Sichtweise in der Öffentlichkeit zu multiplizieren.
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